Kennen Sie den? Stürzt ein Mann vom Dach eines fünfzigstöckigen Wolkenkratzers. Als er beim dritten Stock vorbeifällt, denkt er sich: „Ich weiß nicht, was die Leute immer haben: Bis jetzt ist doch gar nichts passiert!“
Womit wir in Ösien wären. Seit Jahren fällt die einst schmucke Alpenrepublik in allen Rankings zurück, was den obersten Wirtschaftslobbyisten 2013 sogar dazu veranlasste, den Standort als „abgesandelt“ zu bezeichnen. Wie immer in der unterentwickelten ösischen Diskurskultur war die Empörung über die Formulierung enorm, die Bereitschaft zur sachlichen Behandlung gering, die politische Reaktion: null. 
Seit damals sind mehr als zwei Jahre vergangen. Die Kritik an der Kritik ist verstummt, zu offensichtlich ist der Absturz. Fast 400.000 Menschen waren im September arbeitslos, Ösien ist damit vom europäischen Musterknaben ins Mittelfeld zurückgefallen. Aufgrund sprunghaft steigender Lohnstückkosten und einer seit Jahrzehnten komatösen Bildungspolitik wird der ehemalige Musterknabe in internationalen Standortrankings nach hinten durchgereicht. Beim Wachstum hat sich Ösien von Europa abgekoppelt, warnt auch der IWF und reduzierte erst kürzlich die Prognose für 2015 auf 0,8 Prozent. Die Eurozone wächst doppelt so schnell.
Die realen Einkommen stagnieren, die privaten Vermögen – und dazu zählt auch Omas Sparbuch – werden schleichend entwertet, denn Spitze ist Ösien heute nur mehr bei der Inflation, der Steuerquote und bei der Verschuldung: Der öffentliche Schuldenstand erreichte Ende 2014 den historischen Höchststand von 278 Milliarden Euro bzw. 84,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Für Ende 2015 rechnet die Ratingagentur Fitch sogar mit einer Verschuldungsquote am BIP von 89 Prozent – und entzog Ösien das Triple-A, den Ausweis als erstklassiger und verlässlicher Schuldner. Standard & Poor’s hatte den diesbezüglichen Glauben schon 2012 verloren. Jüngstes Zeichen des ungebremsten Niedergangs ist der Verlust von weiteren zwei Plätzen im Ranking des World Economic Forum (WEF). Ösien liegt nun auf dem 23. Platz von 140 teilnehmenden Ländern und am 10. Platz im Vergleich der EU-Staaten. Erst 2014 war Ösien von 16 auf 21 abgestürzt. Die Diagnose ist seit Jahren dieselbe: unbewältigte Strukturprobleme in Kernbereichen wie Arbeitsmarkt, Pensionssystem, Bildung, Bürokratie und Verwaltung.
Man kann der ösischen Politik in dieser Frage allerdings nicht Untätigkeit vorwerfen: Mit Hochdruck arbeitet sie daran, die Lage der Wirtschaft weiter zu verschlechtern. Schon jetzt sind viele Gesetze weder verständlich noch in der unternehmerischen Praxis einhaltbar, ziehen aber – wie etwa das Altlastensanierungsgesetz oder das Arbeitszeitgesetz –drakonische Strafen nach sich. Mit dem kommenden Jahr lassen SPÖ und ÖVP dann neue Bürokratiemonster wie die Registrierkassenpflicht oder das Behindertengleichstellungsgesetz auf die Unternehmer los: noch mehr betrieblich sinnlose Kosten, noch mehr Verwaltungsaufwand, noch weniger Motivation und Erfolgschancen.
Kennen Sie den auch? Der Mann, der vom Dach stürzte, hatte Glück. Er blieb im zweiten Stock mit dem Auge an einem vorstehenden Nagel hängen.
Dieser Text ist erschienen in einer Beilage zu News und Profil im November 2015.
ich kann nur zustimmen ! herrlicher Artikel !!