Mit 15 sieht die Welt zweifelsohne anders aus. Muss sie aber deshalb gleich wieder zur Scheibe werden? Immerhin in den Leserbriefecken der „Kleinen Zeitung“ machte sich kürzlich rund um die Landesfeiern im Gedenken an den 10. Oktober 1920 Verwunderung breit, als eine 15-jährige Polytechnikum-Schülerin aus Feldkirchen zu diesem für Kärnten doch recht signifikanten Datum trocken meint, sie habe „davon noch nie gehört“, weder in der Volks- noch in der Hauptschule.
Den Bildbeweis für die Arglosigkeit der Ahnungslosigkeit trat die Schülerin des Polytechnikum sogleich an – und ließ sich freundlich lächelnd vor dem (nebstbei orthografisch falschen) Schild der 10.-Oktober-Straße fotografieren, in der sie zwar wohnt, über deren Benennung sich die Frohnatur aber offenbar noch niemals auch nur den Anflug eines Gedankens gemacht hat. 
Das mag man nun für ein schlimmes Einzel- oder auch Familienschicksal halten. Viele Menschen kommen gänzlich ohne geschichtliche oder auch geografische Verortung ihrer Existenz in einer sie umgebenden Welt, völlig ohne Brücke zwischen Herkunft und Zukunft aus; fast hat man den Eindruck: immer mehr. Doch verdichten sich die Anzeichen dafür, dass dieser Wahnsinn doch Methode hat (in Anlehnung an Shakespeares „Hamlet“, falls Sie für unerwartete Anzeichen von Bildungsbürgertum ein Faible haben sollten). War es in den vergangenen Jahrtausendenden der Menschheit auch schon problemlos möglich, analog zu verblöden, scheint das Internet, genauer: die total unsozialen „Sozialen Medien“, diesen Prozess noch dramatisch zu vereinfachen.
In einer Schweizer Abendzeitung, die zugegebenermaßen nicht für ihren intellektuellen Anspruch, schon mehr für ihre Reichweite bekannt ist (was sagt uns dieser durchaus auch in Ösien nachvollziehbare Zusammenhang?), wurde kürzlich in einem Artikel über das Mediennutzungsverhalten Jugendlicher die 17-jährige Olivia zitiert: „Twitter ist mir zu textlastig“. Jetzt könnten wir uns über diese Aussage angesichts der mit 140 Zeichen begrenzten gedanklichen Spurenelemente (inklusive Satzzeichen, falls man diesen Begriff angesichts der notwendigerweise entstehenden Satz-Torsi für angebracht hält) in wohlartikulierter Überheblichkeit mokieren – würde uns nicht das abfällige Lachen im Halse stecken bleiben: Denn Facebook – in dem sich einige von uns gerade zurechtzufinden beginnen – ist bei der Jugend schon wieder Geschichte, cool sind „Apps“ zum „Gamen“ und Video schauen. WhatsApp steht hoch im Kurs, da kann man sich den mühsamen Text gleich sparen, oder der Einfachheit halber Sprachnachrichten verschicken. Doch die nächste Simplifizierung droht bereits: Mit SnapChat kann man auch Nachrichten und Bilder senden, die nach dem Lesen aber automatisch verschwinden. Kein Archiv, kein Mobbing, keine Geschichte. Kobra, übernehmen Sie. Ihr bisheriges Leben wird sich in fünf Sekunden löschen.
An diesem Punkt legen wir jetzt alle bitte Zeigefinger und Daumen der rechten Hand an unsere beiden Nasenflügel und drücken fest zu. Nehmen wir uns an der Nase, denn wir alle sind schuld daran, dass Bildung und Wissen in unserer Gesellschaft kaum mehr einen Stellenwert haben. Wir nehmen hin, dass die Idole unserer Kinder im Wochentakt wechselnde Retortenpopglühwürmchen und verhaltenskreative Möchtegernkleiderständer aus dem Fernsehen sind. Wir nehmen hin, dass es den sportlichen Vorbildern unserer Kinder ausschließlich um irrwitzige Millioneneinkünfte zu gehen scheint – alles andere ist primär (© Fußball-Ikone Hans Krankl, und das ist beileibe nicht einer der Dümmsten). Wir nehmen hin, dass eine unvollständige Schulbildung samt lückenhaftestem Allgemeinwissen offenbar zu den Grundanforderungen an jeden Ö3-Radiomoderator und eine Vielzahl an Politikern zählt – und auch zwecks Vorbildwirkung möglichst oft on air bewiesen werden muss.
Diese Vorbildwirkung der Eliten kommt auch im jüngsten Rosenkrieg in der Landeshauptstadt von Kakanig, dem wilden Süden Ösiens, eindrucksvoll zur Geltung. Ein Vize- kündigt seinem Bürgermeister via SMS die Liebe auf, wie es sich halt so g’hört unter Erwachsenen. Neun schwere Fehler (Beistriche, dass-Schreibung, Zeitenfolge, Groß-Klein-Schreibung) in einer Ein-Satz-Nachricht sind offenbar das richtige Rüstzeug für höhere kommunale Aufgaben.
Aber wer braucht schon Schriftsprache, wenn es bewegte Bilder und süße kleine Gesichter namens „emoticons“ – oder noch infantiler: „emojis“ – gibt, mit denen sich Gemütszustände als Piktogramm vermitteln lassen? Gefühlsbilder, für deren Beschreibung Rilke mit der Hand eng vollgekritzelte Seiten gebraucht hätte – heute komprimiert in einer Mini-Grafik.
Wer war noch mal Rilke? Und überhaupt: Fack ju Göhte!
Dieser Text ist erschienen im Wirtschaftsmagazin advantage, November 2014