Die Zeiten werden härter, das gesellschaftliche Klima kälter, fast vergessene Verteilungsrivalitäten brechen wieder auf. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit darf in keiner politischen Sonntagsrede fehlen. Aber was ist eigentlich sozial gerecht?
Ein nebliger Novemberabend. Im Saal 6 des ÖGB-Hauses in Klagenfurt sind sechzig, siebzig Menschen zusammengekommen, um mit den Präsidenten der Sozialpartner zu diskutieren, wie man den „Sozialstaat Fairbessern“ – so der Titel – könne. Die Einstimmung übernimmt ein gut gemachtes Video, eine hymnische Huldigung des Sozialstaats, die dessen Errungenschaften, seine Unverzichtbarkeit und Ausbaubedürftigkeit in buntesten Farben schildert. Das Wort Wirtschaft kommt in fünf Minuten Film einmal vor, der Begriff „Unternehmer“ gar nicht.
Selten lässt eine Forderung so viel Interpretationsspielraum wie die nach sozialer Gerechtigkeit. „Tatsächlich sind es durchaus konträre politische Ansinnen, die mit dem Verweis auf soziale Gerechtigkeit moralisch unangreifbar gemacht werden sollen – die Einführung von Studiengebühren ebenso wie deren Verhinderung, der Ausbau sozialstaatlicher Transferleistungen ebenso wie ihr Umbau oder Abbau, verschiedenste Maßnahmen im Bereich der Steuer- und Abgabenrechts, und vieles mehr. Die einzige Gemeinsamkeit aller ‚sozial gerechten‘ Gestaltungsvorschläge scheint die zu sein, dass es jeweils die eigenen sind“, analysiert Winfried Löffler in einem beachtlichen Aufsatz über die historischen Wurzeln dieses Themas in der christlichen Soziallehre[1]. Nicht ohne Grund beschäftigen sich die ersten Kapitel mit „Vorklärungen zum Gegenstand“ – schon die Terminologie der Materie ist so uneinheitlich, dass man darin beinahe jeden sympathischen Unfug unterbringt. Sicher ist nur: Die Debatte um soziale Gerechtigkeit ist so alt wie die Menschheit selbst.
Das Publikum im ÖGB-Saal hat diese Frage für sich längst beantwortet: Sozial gerecht ist es, wenn alle mehr Lohn bekommen und die Pensionen kräftig erhöht werden. Auch Ilse Mertel, Landesbedienstete und zwölf Jahre lang für die SPÖ im Nationalrat, ist gekommen; vielleicht sorgt sie sich um die karge Politpension. Auf der Bühne geben WK-Präsident Franz Pacher und IV-Präsident Christof Kulterer ihr Bestes, um einen plausiblen Zusammenhang zwischen der Erarbeitung von Wohlstand und seiner Verteilung herzustellen – das Verständnis in den Sesselreihen ist enden wollend, der Abend für Günther Goach (AK) und Hermann Lippitsch (ÖGB) ein Heimspiel.
Die Forderung nach stärkerer Teilhabe am Wohlstandswachstum hat Tradition bei den Sozialdemokraten. Als sie noch Sozialisten hießen, erfanden sie dazu die Benya-Formel: Die Inflationsabgeltung plus der halbe Wert der Produktivitätssteigerung, das musste bei den jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen mit den Arbeitgebern herausschauen. So falsch war das nicht: Österreich erblühte wirtschaftlich zur Insel der Seligen in Sichtweite zur deutschen Wirtschaftswunderküste, der Massenwohlstand wuchs, Streiks wurden in Sekunden gezählt und der Traum von der sozialen Gerechtigkeit schien zum Greifen nah.
Doch dann ging etwas schief. Was im „gesunden Volksempfinden“ schon seit Jahren herumgeistert, materialisierte sich unlängst in einer Studie der UBS: Österreich sei einer der größten EU-Verlierer und müsse sinkende Lebensstandards hinnehmen. Der Protest war heftig; die IV rechnete mit Eurostat-Daten vor, dass die verfügbaren Haushaltseinkommen im vergangenen Jahrzehnt „in allen Einkommensdezilen gestiegen“ seien. Vorsichtiger war da schon Stefan Bruckbauer, Chefanalyst der Bank Austria: „Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Inflationsentwicklung ist das reale Medianeinkommen in Österreich zwischen 2000 und 2010 tatsächlich gesunken, allerdings nur um 1,5 Prozent. Im untersten Einkommensquartil ergibt sich ein Minus um rund 9 Prozent, im oberen Bereich sind die Einkommen dagegen real gestiegen“, schrieb er an den Studienautor und UBS-Kollegen Paul Donovan. Und: Die Lohnentwicklung in Österreich sei immerhin besser als jene in Deutschland gewesen.
Ein Blick in die Statistik hilft wenig. Seit 1990 hat sich der im Bruttoinlandsprodukt gemessene Wohlstand Österreichs von 136 Milliarden Euro auf rund 308 Milliarden Euro nominal mehr als verdoppelt. Der Index des realen BIP (1990=100) steht 2012 bei 157,4. Im gleichen Zeitraum ist die Staatsverschuldung von 76,5 Milliarden Euro (56,2 Prozent des BIP) auf mehr als 229 Milliarden Euro (ca. 73 Prozent des BIP) angewachsen. Und wenn Österreich auch sagenhafte 85 Milliarden Euro pro Jahr für Sozialleistungen ausgibt, stellen sich doch einige Fragen: Wo ist das viele Geld hingekommen, das die Wirtschaft wertgeschöpft und Einkommensteuern bezahlt, die Bevölkerung an Lohn- und Umsatzsteuern angeführt hat – und das zusätzlich noch an Schulden gemacht wurde? Warum gibt es trotz dieser enormen Summen, die der Staat einnimmt, immer weniger Polizeistationen, Bezirksgerichte, Postämter und anständige Speisewagen im ÖBB-Zug? Und: Wie kann es angesichts dieser enormen Geldtransfers in Österreich sein, dass immer noch Alleinerzieherinnen an der Armutsgrenze leben und Pensionisten im Winter frieren?
Aber es gibt noch andere Seltsamkeiten im monströsen Verschiebebahnhof des österreichischen Transfersystems, das doch genau zu dem Zweck geschaffen wurde, soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten: Das Joanneum Research Institut hat 2009 am Beispiel dreier fiktiver Grazer Familien herausgefunden, dass unter Einbeziehung der sozialen Zuwendungen auf kommunaler Ebene die unterschiedlichen Familieneinkommen nahezu ausgeglichen werden: „Die Familie mit dem niedrigsten Bruttoeinkommen von 950 Euro kommt dank diverser Sozialleistungen beim verfügbaren Haushaltseinkommen auf rund 2800 Euro, das sind nur rund 440 Euro weniger als bei einer Familie mit immerhin 3800 Euro Bruttobezug. Das Paar mit 1900 Euro brutto liegt dank mehrerer sozialer Zuschüsse unterm Strich nur um 39 Euro unter dem Haushaltseinkommen der ‚reichen‘ Familie.“
Ist das sozial gerecht?
Ein weiteres Beispiel dafür, wie leistungsfeindlich das System ist, liefert ebenfalls Joanneum Research: Finanzwissenschafter Franz Prettenthaler zeigt auf, dass die größten Probleme im Steuer-Transfersystem einerseits im Bereich der AlleinerzieherInnen liegen, bei denen ab einem Bruttoerwerbseinkommen von ca. 1.200 Euro „jede Gehaltserhöhung zu einer Reduktion des Nettoerwerbseinkommens (inkl. Transfers) führt und von diesem Niveau aus erst eine Verdoppelung des Bruttoerwerbseinkommens sich netto wieder bemerkbar macht.“ Ebenso stark betroffen seien andererseits Familien mit zwei Elternteilen und mehreren Kindern, wo sich ein Bruttoerwerbseinkommen des gesamten Haushalts von ca. 2.000 Euro als echte Armutsfalle herausstellt: Da kann sich die Familie noch so anstrengen und mehr verdienen – bis ca. 4.000 Euro brutto erhöht sich das das verfügbare Familieneinkommen durch den parallelen Wegfall von Transfers gar nicht.
Die mangelnde steuerliche Berücksichtigung der Kinder bewirkt laut Prettenthaler auch, dass Familien mit zumindest zwei Kindern ab einem Bruttohaushaltseinkommen von 2.000 Euro finanziell immer schlechter gestellt sind als Paare derselben Einkommensklasse ohne Kinder. „Der durch die Steuerreform 2009 begonnene Weg, die finanziellen Lasten der Kindererziehung zumindest teilweise steuerlich absetzbar zu machen, muss konsequent weitergegangen und ausgebaut werden“, schließt Prettenthaler aus den Analysen.
Der Finanzwissenschafter kommt auch bei Rosemarie Schwaiger im profil vor, in einer umfassenden Analyse mit dem Titel „Die Absurditäten des Sozialsystems“: „…Der höchste Steuersatz in Österreich liegt bekanntlich bei 50 Prozent. Auch Bankdirektoren müssen von ihren Millionengehältern nicht mehr als die Hälfte an den Staat abliefern. Das Sozialsystem ist leider nicht so kulant; sehr viel weiter unten in der Einkommenspyramide sind Abzüge bis zu hundert Prozent und darüber keine Seltenheit. In manchen Einkommensklassen ist jede Gehaltserhöhung gefährlich, weil das Minus bei den Transferzahlungen höher ausfallen kann als das Plus auf dem Lohnzettel. Der größte Verlierer sieht für Prettenthaler/Sterner (eine Kollegin von Joanneum Research, Anm.) so aus: ein Paar mit drei kleinen Kindern und einem Alleinverdienergehalt von 1400 Euro brutto monatlich. „In diesem Fall beträgt der Grenzsteuersatz 390 Prozent. Das heißt, hundert Euro mehr Gehalt würden zu 290 Euro weniger Einkommen pro Monat führen“, sagt Franz Prettenthaler.“ Gleichzeitig sind am anderen Ende der Einkommensskala die Beiträge zur Sozialversicherung gedeckelt: Die Höchstbeitragsgrundlage liegt 2012 bei 4.230 Euro im Monat – für Einkommensanteile darüber fällt keine weitere Sozialversicherung an.
Das alles ist zweifelsohne kaum „sozial gerecht“. Aber seit Viktor Adler eine gute Gelegenheit für die Sozialisten – seit 1991 Sozialdemokraten – zu einem ebenso groben wie unausrottbaren Denkfehler: Sie wollen die eine soziale Ungerechtigkeit mit einer anderen austreiben. Denn die von den neuen alten Klassenkämpfern erfundenen Auswege sind genauso wenig gerecht.
Höhere Einkommenssteuern: Die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher tragen schon heute rund 50 Prozent der Lohnsteuerleistung; das oberste Prozent erwirtschaftet sieben Prozent aller Einkommen, zahlt aber 15 Prozent der gesamten Lohnsteuerleistung. Viel problematischer ist, dass bereits rund 40 Prozent aller österreichischen Einkommensbezieher überhaupt von der Lohnsteuer befreit sind. Allein die letzte Steuerreform hat durch die Anhebung der untersten Steuergrenze weitere 160.000 Steuerpflichtige aus der Steuerpflicht genommen. Der Anteil der Lohnsteuerbefreiten hat sich damit seit 1970 mehr als verdreifacht: 2,6 Millionen Personen mit Einkommen zahlen laut Lohnsteuerstatistik keine Steuer. Bei den Erwerbseinkommen gibt es bei einer Abgabenquote von aktuell 42,7 Prozent – einer der höchsten in Europa – nichts mehr zu holen.
Die „Reichensteuer“: Also müssen die Vermögen herhalten, meinen die forschen Forscher der sozialen Gerechtigkeit, die es mit Mein und Dein nicht so genau nehmen. Ein solches Vermögen wurde allerdings in aller Regel zuerst von der Einkommenssteuer und dann noch einmal von der Kapitalertragssteuer erfasst und geschmälert – jetzt noch einmal hinzulangen, nur weil dem verschwenderischen Staat das Geld ausgeht, nähert sich der Enteignung. Interessant ist auch, dass sich Österreich damit gegen den europäischen Trend stellen würde: So haben in den vergangenen fünf Jahren Finnland, Schweden, Spanien, Island und Luxemburg die Vermögensteuer abgeschafft. Die klassische Vermögensteuer existiert heute in der EU nur noch in Frankreich. Und für die Abschaffung der österreichischen Vermögenssteuer 1993 unter einem sozialdemokratischen Kanzler – Franz Vranitzky – gab es gute Gründe: 80 Prozent des Aufkommens wurden von Unternehmen getragen, für Sparbücher wurde ohnehin die Endbesteuerung eingeführt, die auch die Vermögensteuer umfasste. Außerdem war die Bekenntnisfreude der Bürger über ihr Bargeld, ihren Schmuck, Edelmetalle, Yachten und teure Autos eher gering ausgeprägt, und für Grundvermögen gibt es die Grundsteuer.
Es wird also dem klammen Staat nichts anderes übrigbleiben, als zu tun, was ihn am meisten schmerzt: abnehmen. Er muss aufhören, seinen Bürgern in die Tasche zu fassen, in der oft ohnehin nicht mehr genug drin ist, und beginnen, seine Aufgaben zu durchforsten, vieles abzugeben, manches zu vereinfachen, eine Verwaltungsebene langfristig einzusparen, Auswüchse des Förderalismus zu überdenken, sich selbst auf das Notwendige zu beschränken. Rund 300 Vorschläge des Rechnungshofes liegen dazu auf dem Tisch, an Ideen fehlt es also nicht. Wie schwer es der Politik fällt, zu entsagen, zeigt die jüngste Posse um die Verkleinerung des Nationalrats von 183 auf 165 Abgeordnete. „Das Thema Wahlrecht ist abgeschlossen. Und zur Verkleinerung wurde nichts beschlossen“, sagte die schon mit der baulichen Sanierung des Parlaments heillos überforderte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer mit Verweis auf die entsprechende Arbeitsgruppe im Parlament im „Standard“. SPÖ-Klubobmann Josef Cap verstieg sich sogar zu der Aussage, dieser Bruch eines unter dem Druck des letzten Sparpakets geleisteten Sparversprechens sei „im Sinne der Bürgernähe“. Aus dieser Sicht ist vielleicht sogar der anhaltende Hochbetrieb im politischen Selbstbedienungsladen der Republik ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit – zumindest für ihre Nutznießer.
Im ÖGB-Saal 6 neigt sich die etwas einseitige Diskussion nach knapp zwei Stunden dem Ende zu. Auch Ilse Mertel durfte sagen, dass eine Pensionserhöhung unter der Inflationsrate ungesetzlich sei. Franz Pacher versucht ein letztes Mal, die unerbittlichen Verteilungstheoretiker aufzurütteln: „Firmen, die keine Erträge erwirtschaften, Menschen, die keine Arbeit haben – dann sind wir Griechenland!“ Das Publikum trägt’s mit Fassung, Griechenland ist weit, und draußen warten Brötchen und Getränke. Einer der wenigen nicht der Gewerkschaft angehörigen Besucher macht seinem Unmut über das Weltbild vieler Anwesender Luft: „Strom kommt aus der Steckdose, Geld aus dem Bankomaten und Jobs gibt’s beim Arbeitsamt.“
Dieser Text ist erschienen in der Ausgabe 4.2012 des Wirtschaftsmagazins M.U.T.
[1] erschienen in Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart. Hg. von Peter Koller. Wien: Passagen2001, 65-88