Die breitschultrigen Bajuwaren haben es den schmalbrüstigen Ösiern wieder einmal vorgetanzt und den Begriff der deutschen Leitkultur aus den Herrgottswinkeln hervorgekramt, um damit die Antichristen aus dem Land zu jagen. Jetzt ist nicht nur die germanische Nachkriegslebenslüge der Multikulti-Gesellschaft zusammen-, sondern auch eine ösische Debatte aufgebrochen, die rund um den National- bzw. Staatsfeiertag – nicht einmal darauf kann man sich in Ösien einigen – zeitgerecht tobte: Was könnte das denn sein, eine ösische Leitkultur?
Je nach Veranlagung fallen der klugen Ösierin und dem feschen Ösier sofort die Lippizaner der Wiener Hofreitschule oder die Salzburger Mozartkugeln ein; samt Staatsoper, Burgtheater und Musikverein – und allem, was darin gespielt, gesungen und musiziert wird – zweifelsohne hochkultur-, aber deshalb noch nicht leitkulturtauglich. Zu diesem breiten Anspruch passt doch besser der Peter Rosegger (eigentlich: Roßegger), der es vom Waldbauernbub bis fast zum Literaturnobelpreisträger gebracht hat. Oder die für die Landesgröße beachtliche Zahl an wahren Größen der U-Musik, von Wolferl Ambros bis Rainhard Fendrich, von Falco bis Georg Danzer, von Stephanie Werger bis Peter Cornelius, von Steinbäcker, Timischl und Schiffkowitz (STS) über Hubert von Goisern bis zu Opus, deren einziger Megahit „Live is Life“ bis heute glüht und seine Erschaffer wärmt.

A3, wohlklingender Patriotismus von 1997 bis 2006: Es war sehr schön, es hat uns sehr gefreut.
Wer sich dem Konzentrat „Austria 3“ einen verregneten Sonntagnachmittag lang hingibt, ist nach der „Kinettn wo i schlof“, „I bin a Kniera“, „Tango korrupti“, dem „Vorstadt-Casanova“, dem „alten Wessely“, „Ruaf mi ned au“ und „I am from Austria“ nicht mehr derselbe schluchtenscheißende Ignorant wie vorher und spürt eine Ahnung in sich, wie man sich denn der ösischen Leitkultur annähern könnte, ohne deshalb allzuweit politisch nach rechts und historisch nach hinten auszuholen. Die Dosis der Ahnung ist angesichts der Fülle an Liedgut dieser Ausnahmekünstler beliebig steigerbar, und dass Georg Danzer schon 2007 vorausgegangen ist und jetzt in der allerhöchsten Liga singt, macht die Last der Erkenntnis auch nicht leichter, bis seine weißen Pferde in den ersten eigenen Regentropfen verschwimmen.
Weniger tränenreich, dafür imageprägend eröffnet sich der ösischen Seele wohl die Leidkultur, hoch entwickelt angesichts der großen Tradition des Verlusts: Zuerst vergingen Monarch und Monarchie, für viele damit auch Bürger- und Wohlstand; alte Ordnungen verblassten, ohne neue erstehen zu lassen; dann verlor Ösien den zweiten Krieg, dessen erstes Opfer es im Nachhinein gewesen sein wollte. Das Larmoyante, das dem Ösier anhaftet wie das Pedantische dem Preußen, ist aber ein Kind der Ebene: Es wuchs in Wien auf, dieser für den bergigen Rest Ösiens viel zu großen und fernen Reichsmetropole in den zugigen Tiefen Pannoniens; nicht in den stolzen Alpentälern, wo die Sprache knapp und das Jammern fremd ist.
Als sich nach dem Abschluss des Staatsvertrags endlich doch ein Licht am Ende des Tunnels zeigte, ging die östliche Leid- langsam in die bis heute anhaltende Neidkultur über. Denn wenn es auch in Ösien im Winter kalt und finster ist wie in Skandinavien, ist der Menschenschlag doch ein ganz anderer. Würden in Ösien alle Einkommen im Internet veröffentlicht, wie das in Norwegen jährlich in der skattelister (Steuerliste) geschieht, würden nicht nur sofort die jeweiligen Internet-Server zusammenbrechen, sondern auch jede Menge bis dahin gutnachbar- oder gar freundschaftlicher Beziehungen. Auch die ösischen Politiker müssten den Tag der Veröffentlichung fürchten, ganz im Gegensatz zu den norwegischen Kollegen: Premierminister Jens Stoltenberg verdiente 2008 137.000 Euro, der ösische Bundeskanzler räumt rund 290.000 Euro brutto im Jahr ab. Um einen politischen Leistungslohn kann es sich nicht handeln: Ösien verzeichnet aktuell einen Schuldenstand von mehr als 190 Milliarden Euro, das bedeutet ca. 25.500 Euro Schulden pro Kopf. Norwegen hat 41.000 Euro pro Kopf – allerdings Guthaben, denn seit gut zehn Jahren gibt es keine Schulden mehr, und die Überschüsse fließen in einen Pensionstopf.
Auch das wäre eine gute Leitkultur – für ganz Europa.