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Kakanig, im Feber 2026 – Die winterliche Kälte hat den ausgemergelten Landstrich zwischen Ösien und Slewonien fest in ihrem starren Griff. Seit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung im Zuge der Maiaufstände des Jahres 2010 ist das einst stolze Land zum Armenhaus Europas verkommen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind auf Lebensmittel- und Kleiderspenden aus den Balkanstaaten angewiesen; ein später Dank für die großzügigen Milliardensubventionen der damaligen kakanischen Landesbank, die dem Immobilienhandel und dem Yachtchartergeschäft  an der Adriaküste zu Beginn des Jahrtausends eine ungeahnte Hochblüte bescherten. Zeugen einer besseren Vergangenheit sind auch einige Fass Billigdiesel, die jedes Monat durch den ansonsten hermetisch abgeriegelten Loibltunnel unter schwerer Bewachung an dessen Nordportal gebracht und den letzten Resten der Regierungstruppen, den Freien Abwärtskämpfern, übergeben werden: Hilfslieferungen aus Libyen, das dank der Freundschaft der ehemaligen Staatschefs als eines der wenigen Länder noch Kontakt zum eingekesselten Bergvolk in Kakanig hält.

Wie konnte es nur dazu kommen? Die Wurzeln der Katastrophe reichen in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück, als eine neue politische Bewegung ans Ruder kam: jung, fesch und skrupellos unterwanderten sie die öffentlichen Institutionen und brachten mit hemmungsloser „Brot und Spiele“-Politik, effektvollen Events und primitiven Geldverteilungsaktionen große Teile der gutgläubigen Bevölkerung auf ihre Seite. Politische Gegner wurden mundtot gemacht oder korrumpiert. Doch das Pyramidenspiel platzte, als die vermeintlich nie versiegende Geldquelle – die Landesbank – zuerst verkauft und dann sogar notverstaatlicht werden musste. Nur die ösische Zentralverwaltung rettete Kakanig mit Steuermilliarden davor, mit der neunfachen Überschuldung des Landesbudgets in die Pleite zu rutschen. Der Provinzkommandant feierte dieses Debakel als „erfolgreichen Abwehrkampf“ gegen die Bundeshauptstadt, der Chef der für die Katastrophe hauptverantwortlichen Partei sprach von einem „guten Tag“ für Kakanig.

Die nun aufkeimende empörte Forderung der übrigen Bundesländer Ösiens, den wilden Süden an die Slewonen zu verschenken, und der zunehmende Realitätsverlust der kakanischen Politik trafen sich in einem folgenschweren Schritt: Am 10. Oktober 2010, dem neunzigjährigen Jubiläum der geschichtsträchtigen Volksabstimmung für den Verbleib bei Ösien, erklärte die verarmte Provinz ihren Austritt aus der Republik Ösien und rief den „Freistaat Kakanig“ aus. Seine Verfassung schrieb die Sternhofbauern in der dynastischen Tradition der Habsburger fest, seine Währung – in Erinnerung an einen ehemaligen Parteiführer – war der Bärentaler. Dass Kakanig damit auch aus der Europäischen Union ausgetreten war, wurde den Abtrünnigen erst Wochen später bewusst; die Nachbarstaaten machten die Grenzen dicht, die politische Abschottung führte geradewegs in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Isolation.

Deren Folgen werden Tag für Tag an den langen Schlangen der Bedürftigen sichtbar, die sich stundenlang in den Freien Abspeisungen für eine warme Brennnesselsuppe anstellen.

Aus dem früheren Amt der Landesregierung ist mittlerweile der Freie Bunker Sternhof II geworden; jeden Morgen werden die zahlreichen Obdachlosen der Umgebung – meist ehemalige Beamte – im Innenhof zusammengetrieben zum Appell: Das Banner von Kakanig in braun mit grünem Rand wird gehisst zu den Klängen der Neuen Freien Landeshymne (nach der Melodie eines bekannten kakanischen Heimatliedes):

1. Was kümmert mi Demokratie, was kümmert mi a Wahl; mi kümmert lei die Spende, mit der i’s Suppale bezahl.

2. Was nutzt mir Rechtschaffenheit, was nutzt mir mei Ehr‘; mir nutzt nur die F-Partei, denn mit der bin i wer.

3. Mei G‘wissen is ganz ruhig, mei Ruf mir einerlei; i pfeif auf gonz Europa, bin verwahrlost oba frei.

* Die Schöpfer der Neuen Freien Landeshymne haben offenbar auch vor Anleihen bei einem berühmten Ösi-Popper nicht zurückgeschreckt.

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