Klagenovec, Juli 2009 – Seit dem sagenumwobenen Tod des ebenso charismatischen wie verhaltensauffälligen Landesfürsten ist die entlegene, manchmal auch entrückte Südprovinz Ösiens nicht nur in eine wirtschaftliche, sondern auch in eine zivilisatorische Rezession geschlittert. Durch das Wechselspiel von Höhenzügen und Seen mit besonderer natürlicher Schönheit gesegnet, hat der klimatisch mediterran begünstigte Landstrich dennoch selten durch besonderen Fortschrittsgeist von sich reden gemacht. Einen internationalen Spitzenplatz nimmt Kakanig lediglich bei der Chordichte ein, die sich auch im täglichen Vorsingen in der beliebten Provinz-TV-Sendung „Kakanig heute“ niederschlägt; meist nach dem bedeutungsschwer einmoderierten Bericht über einen dramatischen Traktorunfall, bei dem am Vormittag ein frühpensionierter Bauer während der Fahrt durch eine beim Öffnen auf den Zeh gefallene Bierflaschenkapsel unbestimmten Grades verletzt und – nach einem Raufhandel unter den Besatzungen – von einem der konkurrierenden Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen wurde.

KZ-Häftlinge bei Tunnelarbeiten am Loibl-Pass. Foto: SS-Erkennungsdienst, 1944. Aus: „Das sichtbare Unfassbare“ – Fotografien vom Konzentrationslager Mauthausen (BMI/Amical Barcelona/Amicale Paris).
Ewiger Abwehrkampf. Wirtschaftlich sind Kakanig andere Regionen Ösiens zum Teil weit davongezogen. Noch heute lebt man beschaulich als pragmatisiertes Opfer der jahrzehntelangen Randlage am Eisernen Vorhang, im Selbstverständnis ein ewiges Bollwerk gegen den allgegenwärtigen, wenn auch gesichtslosen Feind. Nur unter dieser psychogeographischen Grundannahme kann der externe Beobachter annähernd erfassen, weshalb die Mitgliederzahl des Abwehrkämpferbundes – gemahnend an den bewaffneten Widerstand gegen die kommunistische Annexion und die damit erzwungene Volksabstimmung 1920 – auch nach dem Tod des letzten aktiven Abwehrkämpfers 2005 im Alter von 104 Jahren zunimmt. Und nur so kann der Nicht-Kakanier vielleicht erahnen, weshalb die „Konsensgruppe“ jahrzehntelang verfeindeter, zuletzt einiger Volksgruppenvertreter ihren respektablen „Europäischen Bürgerpreis“ aus den Händen des Vizepräsidenten des EU-Parlaments nicht im hochoffiziellen Großen Wappensaal des Landtags in Empfang nehmen darf. Ein der Überparteilichkeit völlig unverdächtiger Landtagspräsidenten ist der wahrhaft skurrilen Meinung, dass diese europäische Würdigung nicht im öffentlichen Interesse des Landes sei. Beim Foto-Shooting für den Wahlkampf seiner Partei, wofür der historische Saal den Hintergrund geben musste, war der Herr Präsident weit weniger besorgt.
Staatsurlaub. An dieser Seelenstimmung hat sich – zumindest im offiziellen Kakanig – auch seit dem EU- und Schengen-Beitritt des stammesgeschichtlich mehrtausendjährigen Nachbarn Slewonien nichts geändert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass der fast vom halben Stimmvolk gewählte Nachfolger des Landesfürsten – ein redlicher Mann volkstümlichen Formats mit einer befremdlichen Vorliebe für Pannenwesten, schlechte Witze und Brennnesselsuppe – den Besuch des ösischen Bundes- und des slewonischen Staatspräsidenten in einer KZ-Gedenkstätte geschwänzt hat. Und zwar nicht, weil er – wie behauptet – bei dringenden amtlichen Auslandsvisiten unabkömmlich war, sondern weil er sich schlicht nicht im Urlaub stören lassen wollte.
Noch tiefer lässt allerdings die Erklärung seines ersten Landeshauptmannstellvertreters blicken: Er zog die Freilassung eines Bartgeiers vor – „das war mir im Moment wichtiger“. Wichtiger als 1650 Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, die 1943 unter Einsatz ihres Lebens den eineinhalb Kilometer langen Tunnel durch die südliche Felsbarriere brechen mussten, hinter der sich Kakanig seit ihrer Auffaltung versteckt.
Politischer Totalschaden. Eine andere Art Durchbruch schaffte vor kurzem die restliche Landespolitik in ungewohnter Einigkeit und Diskretion: Im Schatten der Sitzungsnacht beschlossen alle Abgeordneten klammheimlich und einstimmig die Erhöhung der Parteienförderung in Kärnten um fünf Millionen Euronen, die Verdoppelung der Klubförderung sowie eine satte Wahlkampfkostenrückerstattung. Diesen Tiefpunkt demokratischer Kultur, diesen Totalschaden am Kärntner Parteiensystem, diese Ausschaltung parlamentarischer Kontrolle durch den über allen Parteizentralen kreisenden Pleitegeier – den soeben freigelassenen? – hätte der urlaubshungrige Brennnesselsuppenliebhaber beinahe verpasst: Er habe erst aus der Zeitung davon erfahren, versicherte der Landeshauptmann treuherzig, während seine Landtagskollegen noch mit diebischem Grinsen die Kohle der Bürger schubkarrenweise in die leeren Parteikassen schaufelten. Weil die bösen freien Medien Kakanigs über diese neue Form der öffentlichen Steuerhinterziehung auch noch berichteten, droht ihnen nun ein Inseratenboykott – ein für Entwicklungsdemokratien typisches Mittel zur wirtschaftlichen Einschüchterung und Einschränkung der Meinungsfreiheit.
So betrachtet war es vorausschauend, den Leichnam des verstorbenen Landesfürsten einzuäschern. Angesichts des schrillen politischen Abgesangs seiner Erben würde er im Grab rotieren, dass der Deckel bebt.