Mai 2008 – In Ösien sorgt derzeit ein Fall von akutem Geldschwund für allgemeines Rätselraten. Obwohl die Konjunkturdaten so gut sind wie lange nicht, stellen immer mehr kluge Ösierinnen und fesche Ösier mit Entsetzen fest, dass die Kassen der privaten Haushalte ebenso leer sind wie jene des Staates. Vermisstenanzeigen blieben bislang erfolglos; nun wurde eine Expertengruppe eingesetzt, um den Verbleib des Geldes zu untersuchen.
Denn die Wirtschaft schreibt indes Rekordgewinne. Genauer: Die Konzerne. Allen voran die Ösischen Milliardenverdiener (ÖMV), die von der weltweiten Explosion der Rohölpreise profitieren und gut gelaunt immer neue All-time-Highs ihres EBIT verkünden. Mindestens ebenso laut lacht der ösische Finanzminister, allerdings im Keller: Unauffällig und ungeniert füllt der gar nicht faule Willi die sprudelnden Euronenmillionen aus der Mineralölsteuer in die Geldspeicher des Bundesbudgets, während von ersten Selbstmorden mit der Zapfpistole an den ösischen Tankstellen berichtet wird – angesichts der Kosten für diese Suizidvariante ein wahrhaft goldener Schuss.
Die Ölsteuermillionen treffen in Willis Geldspeicher auf Euronenberge, die ein Phänomen namens „kalte Progression“ dort stillschweigend angehäuft hat: Weil die Politik den Grenzwert der höchsten Steuerklasse mit 51.000 Euro seit fast 20 Jahren nicht verändert hat, sind aufgrund der Inflation und höherer Einkommen mittlerweile sieben Mal so viel Österreicher in die 50-Prozent-Falle getappt wie 1989 – obwohl sie sich nicht mehr leisten können als vor 20 Jahren. Was mit den Tonnen an Ölgeld und Progressionsgewinnen geschieht, weiß niemand – für große Reformen und politische Kraftakte des Staates fehlen jedenfalls die Mittel. Und Willi lacht, still und leise.
Das Lachen vergeht allerdings immer mehr Menschen in Ösien. Die Preise für Lebensmittel explodieren, die Gemeinden und Länder greifen ihren Bürgern immer tiefer in die Taschen, und durch die Hintertür stiehlt sich die Armut in so manches Wohnzimmer. In Ösiens Nachbarland Germania, in dem die Wirtschaft boomt wie seit Jahren nicht; in dem der Absatz von Luxusyachten um 50 Prozent gestiegen ist; in dem die horrendesten Manager-Gehälter und Abfertigungen bezahlt werden; in dem eine Rekordbilanz die andere jagt bei gleichzeitiger Ankündigung von massivem Stellenabbau; in diesem wiederauferstandenen Bollwerk europäischer Wirtschaftskraft haben immer mehr Menschen immer weniger, während die Privatvermögen anschwellen. Jeder achte Deutsche ist arm. Das Wirtschaftswunder für alle ist am Ende, der Kapitalismus schüttelt seine letzten sozialen Hemmungen ab. Man werde sich die beste medizinische Versorgung für alle nicht mehr leisten können, beschied unlängst die germanische Ärztekammer. Nicht einmal ein Aufschrei folgte.
In Ösien ist die Lage genauso trist. Fragmente einer angekündigten großen Gesundheitsreform stoßen auf heftigsten Widerstand der Ärzte, der verunsicherten Patienten – nur die von der Pleite akut bedrohten Krankenkassen greifen nach jedem Strohhalm, um sich vor dem Ertrinken in einem Mahlstrom aus höherer Lebenserwartung, teureren Medikamenten und dramatisch steigenden Krankenhauskosten zu retten. Währenddessen ist die von Politikern entrüstet in Abrede gestellte Zwei-Klassen Medizin längst auch hier gelebte Realität.
Und wo bleibt nun das ganze Geld, das die großen Konzerne in Europa und auf der ganzen Welt verdienen? Das gehört natürlich den Investoren, wie sich die Kapitalisten von heute schamvoll nennen. Davon haben die Beschäftigten nichts, die zum Teil um Hungerlöhne schuften und trotz Arbeit arm sind – working poor. Davon hat die kleine und mittelständische Wirtschaft nichts, weil die Großen entweder global einkaufen oder zu Konditionen, die sich der heimische Lieferant nicht leisten kann. Und davon hat der Staat nichts, denn die Großen zahlen – dank Gruppenbesteuerung – immer weniger Steuern in Österreich. Die Investoren selbst parken ihre rapide wachsenden Vermögen steuerschonend in diskreten Stiftungen und haben die gesellschaftliche Solidarität, für viele Konzerngründer noch eine feste Säule ihres Wirkens, längst einseitig aufgekündigt.
Und die Politik, die für den Ausgleich sorgen muss? Die dafür gewählt und bezahlt wird, die Gesellschaft im Lot zu halten, die Chancen und Lasten gerecht zu verteilen, der Jugend Flügel und den Alten eine sichere Pension zu geben? Die ist abgemeldet, von Lobbyisten gezähmt, handlungsunfähig gemacht. Viele sind den Verführungskünsten der smarten Managertypen mit ihren ertragreichen Visionen, ihren guten Manieren und bodenlosen Kriegskassen schlicht nicht gewachsen. Auch Europa, die große Hoffnung, wankt und beschäftigt sich lieber mit dem Verbot von Feuerzeugen ohne Kindersicherung, anstatt sich um Fragen von Armut und Verteilung von Reichtum zu kümmern. Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo das Geld ist: Es ist nicht weg – es gehört nur jemand anderem.
Der Satz könnte von Willi sein. Er lacht.