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Hauptstadt Win, Dezember 2031: Das kleine Land im Alpenbogen liegt seit den umstrittenen Parlamentswahlen vor mehr als 25 Jahren in politischer Agonie. Alf Gusenko, mittlerweile 73 und Chef der siegreichen Sozialistischen Partei, verhandelt nunmehr seit zweieinhalb Jahrzehnten mit dem damals nur knapp unterlegenen christlichsozialen Regierungschef Wer Wennicht Er, beinahe 90  − ohne Erfolg. Dieser Umstand macht Ösien zu einer demokratiepolitischen Einzigartigkeit: Obwohl vor einem Vierteljahrhundert abgewählt, ist die Mitte-rechts-Regierung aus Mangel an Alternativen nach wie vor im Amt. Der Ministerrat ist allerdings mittlerweile auf drei Mitglieder geschrumpft, der Rest ist krankheitshalber zurückgetreten oder an Altersschwäche verstorben. Die junge Republik wird de facto von den Beamten geführt, die noch sehr der früheren monarchistischen Ordnung anhängen, und hat − quasi durch den Wegfall störender politischer Einmischung − einen bemerkenswerten sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung genommen.

Das Tauziehen zwischen Rot und Schwarz um eine Koalitionsregierung geht indes − nicht eben munter, aber immerhin − weiter: Jeden ersten Mittwoch im Monat treffen einander die Verhandlungsteams der Sozialisten und der Christlich-Sozialen unter Führung ihrer greisen Obleute im berühmten Kaffee Landtmann, das ob dieses Schauspiels bereits zur Touristenattraktion avanciert ist, zu einer Melange und Kuchen. Politische Themen werden kaum mehr erörtert, die sachliche Debatte ist schon nach wenigen Jahren aufgrund fehlender Inhalte und ohne jede Chance auf Konsens verebbt. Lediglich ein früherer Parlamentsschreier, von seinen Kollegen liebevoll Tschapperl genannt, fällt ab und zu durch Wutanfälle auf, wird aber meist von den übrigen Verhandlungsteilnehmern mit einer Topfengolatsche sediert. Einmal im Jahr besuchen jene Verhandler, die noch gut zu Fuß sind, das Heeresgeschichtliche Museum und legen einen Kranz am Mahnmal des unbekannten Düsenjägers nieder; Details über Ursachen und Zeremonie sind unbekannt und wurden zum immerwährenden Staatsgeheimnis erklärt.

Die kleineren Parteien in Ösien haben sich übrigens mit den Jahren aufgelöst: Nachdem keine von ihnen bereit war, Verantwortung für das Land zu übernehmen und einen Weg aus der Patt-Stellung zu weisen, hat eine erboste und enttäuschte Gemeinschaft aus Ex-Wählern der Grünkommunisten, der Frechen Polemiker und des Bundes zünftiger Ösianer beim hiesigen Innenministerium wegen politischer Insolvenz den Konkurs der drei Parteien beantragt.

Das Verfahren wurde mangels ideologischer Masse eingestellt.

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